Was macht die Gebärmutter in ihrer Freizeit?

Was macht die Gebärmutter in ihrer Freizeit?

Mehr als 400 Seiten über die Gebärmutter – kann das spannend sein? Und wie! Ich dachte, ich wüsste ziemlich gut Bescheid über dieses Organ (ein bisschen auch gezwungenermaßen), aber ich wurde eines Besseren belehrt. Die Hebamme, Autorin und Podcasterin Leah Hazard hat mit „Wo alles beginnt“ ein Buch geschrieben, dass ich gerne jeder und jedem in die Hand drücken möchte. Ich habe erfahren, dass viel von dem, was ich zu wissen glaubte, wissenschaftlich längst überholt ist, darüber gestaunt, welche Geheimnisse der Uterus bereithält, den Atem angehalten, wenn die Autorin einen Blick in die Zukunft wirft, getrauert, als sie von medizinischem Missbrauch schreibt, und mitgelitten mit all den Frauen, denen Schlimmes widerfahren ist und die in diesem Buch eine Stimme bekommen.

Mit der Gebärmutter einmal durchs Leben

Wir beschäftigen uns oft nur dann mit unserem Uterus, wenn er Probleme macht, oder wenn er ein Kind beherbergen soll. „Aber was macht die Gebärmutter in ihrer Freizeit?“ fragt die Autorin ganz zu Anfang des Buches. Und gibt im Folgenden eine ausführliche Antwort darauf. Sie beginnt mit neugeborenen Mädchen, die bereits eine Art Menstruation haben können, und begleitet die Leser*innen dann durch alle Themen, die mit dem Organ verbunden sind: Menstruation und Zyklus, Empfängnis und Geburt, Verlust eines Kindes und Krankheiten, Wechseljahre und Hysterektomie … Vor Beginn der Lektüre war mir nicht klar, dass auch in anderen Frauenleben die Gebärmutter so eine zentrale Rolle einnimmt.

Vernachlässigung weiblicher Themen in der Medizin

Umso empörender, dass die Forschung zu ihr noch so jung ist. Über Generationen galt die Gebärmutter als Brutstätte weiblicher Hysterie, wurde in der Wissenschaft – wie so viele weibliche Gesundheitsthemen ! – stiefmütterlich behandelt und Patientinnen mit ihren Beschwerden nicht ernstgenommen. Mit dem Ergebnis, dass wir immer noch erstaunlich wenig über sie wissen. Und dennoch scheint es schwer zu sein Forschungsgelder aufzutreiben, obwohl die Möglichkeiten grandios klingen: Screening von Krankheiten oder sogar das Erkennen von Dispositionen für diese anhand es Periodenblutes beispielsweise. Das Vorhandensein einer Gebärmutter-Hirn-Achse, ähnlich wie die Darm-Hirn-Achse, die in den letzten Jahren für Furore sorgte, ist wahrscheinlich. Mit dem Mikrobiom gesunder Gebärmütter könnte man vielleicht unfruchtbaren Frauen helfen. Auf jeder zweiten Seite hatte ich einen Aha-Moment. Und habe gleichzeitig den Kopf geschüttelt, dass diese Themen nicht mehr Aufmerksamkeit bekommen.

Ethische und menschliche Abgründe

Im letzten Drittel des Buches habe ich mich fast etwas geschämt, dass ich noch nie vom Begriff des Reprozids gehört hatte, von Völkermord durch Zwangssterilisation. Mir war nicht klar, wie vielen Frauen ohne ihr Einverständnis und teils ohne ihr Wissen Eileiter durchtrennt und die Gebärmutter entfernt werden. Mir wurde bewusst, wie privilegiert ich bin, während viele BiPoc von Ärzt*innen noch weit weniger ernstgenommen werden, als weiße Frauen. Wie rassistisch die Medizin häufig noch ist und welche Leidenswege damit verbunden sind.

Zwischen Yoni-Dampfbad und Gebärmutter-Transplantation

Es muss sich vieles ändern – und zum Glück gibt es langsam ein Bewusstsein für all diese Missstände. Ebenso wie immer mehr Aufmerksamkeit für weibliche Gesundheitsthemen und damit auch für den Uterus. Ob es nun Gebärmutter-Wellness sein muss (ein neuer Begriff für mich), lässt die Autorin offen, hat sich aber auch damit beschäftigt. Vor allem aber hat sie mit führenden Wissenschaftler*innen gesprochen, den aktuellen Forschungsstand zusammengefasst und mit den Geschichten vieler Frauen zusammengebracht, die Freud und Leid mit ihrer Gebärmutter erfahren durften und mussten. Sie hat einer Gebärmuttertransplantation beigewohnt und wagt am Ende einen Blick in die Zukunft: Wird die Schwangerschaft außerhalb eines Körpers irgendwann möglich sein? Es ist mehr als wahrscheinlich. Dann werden sich neue ethische Fragen auftun, die die Autorin jetzt schon andeutet. Und dann wird es genauso wichtig sein wie heute, dass alle Menschen ein Recht darauf haben, über ihren Körper und über ihre Reproduktion selbst zu bestimmen.

Hinweis zur korrekten Ansprache

Ich habe mich bemüht, in dieser Rezension alle korrekt anzusprechen. Es gibt sowohl Frauen als auch Männer mit oder ohne Uterus. Weiblich und männlich gelesene Personen mit oder ohne Uterus. Ich bin keine Expert*in, was die korrekte Ansprache aller Gruppen angeht, und entschuldige mich, sollte sich jemand durch meine Worte verletzt fühlen. Weist mich gerne auch auf diesbezügliche Fehler hin, damit ich sie korrigieren kann.


Leah Hazard:
„Wo alles beginnt. Die ungeahnte Power der Gebärmutter“

übersetzt von Sophie Zeitz
Atlantik, 2023
ISBN: 9783455015782
416 S.
24,00 € [D]

Danke an Hoffman und Campe für die Bereitstellung des Rezensionsexemplars.

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